Ito Formel Heuristik < stoch. Analysis < Stochastik < Hochschule < Mathe < Vorhilfe
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(Frage) beantwortet | Datum: | 14:49 Mi 15.03.2023 | Autor: | Jellal |
Tag zusammen!
Ich verstehe die heuristische Herleitung der Ito Formel nicht, und bin verwundert, dass diese heuristische Herleitung anscheinend der Ursprung der stochastischen Analysis ist (in jedem Einfuehrungsmaterial, das ich gesehen habe, werden immer die gleichen, unrigorosen Argumente verwendet).
Im Buch von L. Evans "Introduction to stochastic differential equations", motiviert man, in dem man eine Ito-Diffusion [mm] dX_{t}=b(X_{t}) [/mm] dt [mm] +\sigma (X_{t}) dW_{t} [/mm] nimmt und eine Funktion f(X(t)) betrachtet.
Nach Regeln der reellen Analysis koennte man nun versuchen, die Kettenregel zu benutzen, und erreicht:
[mm] \bruch{df}{dt}=\bruch{df}{dX}\bruch{dX}{dt}, [/mm] sodass df = [mm] \bruch{df}{dX} [/mm] dX = [mm] \bruch{df}{dX} [/mm] (b(X)dt [mm] +\sigma(X))dW).
[/mm]
Nun wird gesagt, dass das allerdings falsch ist, und zur Begruendung nimmt man die Taylor-Reihe der Funktion f (und benutzt die Tatsache, dass dW wie [mm] dt^{0.5} [/mm] skaliert, was spaeter rigoros gezeigt werden soll):
Wikipedia zeigt die Rechnung:
Wiki.
Man findet also einen anderen Ausdruck fuer df.
Aber wer sagt mir denn jetzt, dass der erste Ausdruck falsch ist, und nicht etwa der zweite?
Die Taylor-Reihe, geschrieben mit den Differentialen, ist ja auch nur eine Heuristik.
Streng genommen existiert die Taylorreihe doch nur fuer endliche Differenzen [mm] \Delta [/mm] X, und nicht fuer dX. Fuer [mm] \Delta [/mm] X kann ich aber nicht einfach die Ito-Diffusion einsetzen, sodass die Herleitung fuer den vermeintlich korrekten Ausdruck df doch auch nicht stichhaltig ist.
Ich glaube, ich bin ein Beispiel fuer jemanden, bei dem Heuristiken eher das Gegenteil bewirken, als sie sollten...
vG.
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Hallo Jellal,
ich bin völlig bei dir.
Sämtliches rumgerechne mit Differentialen muss bei SDEs scheitern, wenn man es anständig verstehen will.
Die Schreibweise einer SDE mit Hilfe von Differentialen ist aufgrund der Analogie zur normalen Analysis zwar oftmals sinnvoll, man muss aber eben genau deswegen vorsichtig sein, weil der normale Ableitungsbegriff für Zufallsvariablen keinen Sinn ergibt.
Man sollte sich also bewusst sein, dass die SDE der Itô-Diffusion $ [mm] dX_{t}=b(X_{t}) [/mm] dt [mm] +\sigma (X_{t}) dW_{t}$ [/mm] nur eine Kurzschreibweise für die Gleichung mit stochastischen Integralen ist, nämlich
$ [mm] X_{t} [/mm] - [mm] X_0 =\int_0^t b_s [/mm] ds [mm] +\int_0^t \sigma_s dW_{s} [/mm] $ (ich schreib für [mm] $b(X_t)$ [/mm] mal [mm] $b_t$ [/mm] und für [mm] \sigma [/mm] analog)
Nun kann man rigoros zeigen, dass für eine zweimal stetig differenzierbare Funktion $f$ die fast sichere Gleichheit
[mm] $f(X_t) [/mm] - [mm] f(X_0) [/mm] = [mm] \int_0^t f'(X_s)b_s [/mm] + [mm] \frac{\sigma_s^2}{2}f''(X_s) [/mm] ds + [mm] \int_0^t f'(X_s)\sigma_s dW_s$
[/mm]
gilt (Itôs Lemma). Schreiben wir das nun wieder in SDE-Form verkürzt sich das zu
$df = (f' [mm] b_t [/mm] + [mm] \frac{\sigma_t^2}{2} [/mm] f'')dt + [mm] f'\sigma_t dW_t$
[/mm]
und man hat den gewünschten Ausdruck für $df$.
D.h. der gewünschte Ausdruck ergibt sich wirklich aus einer klaren Herleitung und dem verkürzten Aufschrieb als SDE.
Dass die gewohnten Ableitungsregeln für "normale" Funktionen nicht gelten (also in diesem Kontext "falsch" sind), kann man sich relativ leicht überlegen:
Wie sähe denn danach die Ableitung von [mm] $B_t^2$ [/mm] aus und wieso kann das nicht stimmen?
Gruß,
Gono
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(Frage) beantwortet | Datum: | 15:31 Fr 17.03.2023 | Autor: | Jellal |
Hi Gono,
danke dir fuer deine Antwort!
>
> Nun kann man rigoros zeigen, dass für eine zweimal stetig
> differenzierbare Funktion [mm]f[/mm] die fast sichere Gleichheit
>
> [mm]f(X_t) - f(X_0) = \int_0^t f'(X_s)b_s + \frac{\sigma_s^2}{2}f''(X_s) ds + \int_0^t f'(X_s)\sigma_s dW_s[/mm]
>
> gilt (Itôs Lemma). Schreiben wir das nun wieder in
> SDE-Form verkürzt sich das zu
>
> [mm]df = (f' b_t + \frac{\sigma_t^2}{2} f'')dt + f'\sigma_t dW_t[/mm]
>
> und man hat den gewünschten Ausdruck für [mm]df[/mm].
>
> D.h. der gewünschte Ausdruck ergibt sich wirklich aus
> einer klaren Herleitung und dem verkürzten Aufschrieb als
> SDE.
Wird das in den Standardwerken denn dann auch gemacht, also in den spaeteren Kapiteln? Also muss ich mich bloß gedulden?
> Dass die gewohnten Ableitungsregeln für "normale"
> Funktionen nicht gelten (also in diesem Kontext "falsch"
> sind), kann man sich relativ leicht überlegen:
>
> Wie sähe denn danach die Ableitung von [mm]B_t^2[/mm] aus und wieso
> kann das nicht stimmen?
Naja, zunaechst mal muesste die Ableitung ja auch eine Zufallszahl sein und sowas muesste man erst mal rigoros definieren.
Anonsten haette ich naiv einfach [mm] (B_{t}^{2})'=2B_{t}B'_{t}.
[/mm]
Nun weiß ich (ohne mich an die rigorose Begruendung zu erinnern), dass die Pfade von [mm] B_{t} [/mm] fast sicher nicht differenzierbar sind.
Willst du auf was anderes hinaus?
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Hiho,
> Wird das in den Standardwerken denn dann auch gemacht, also
> in den spaeteren Kapiteln? Also muss ich mich bloß
> gedulden?
Die Frage ist, was du als "Standardwerk" bezeichnest.
Empfehlen kann ich "J. Michael Steele - Stochastic Calculus and Financial Applications", dort wird das auf jeden Fall gemacht…
Aber auch in dem von dir angesprochenen Werk wird das in Kapitel 4 deutlich gemacht. Auch dort wird klar erwähnt:
> Note carefully that the differential symbols are simply an abbreviation for the integral expressions above: strictly speaking“dX”, “dt”, and “dW” have no meaningalone.
Du kannst aber auch nicht davon ausgehen, bei der Einleitung alles zu verstehen… also nächste Mal mal in die entsprechenden Kapitel vorarbeiten.
> Naja, zunaechst mal muesste die Ableitung ja auch eine Zufallszahl sein und sowas muesste man erst mal rigoros definieren.
> Anonsten haette ich naiv einfach $ [mm] (B_{t}^{2})'=2B_{t}B'_{t}. [/mm] $
> Nun weiß ich (ohne mich an die rigorose Begruendung zu erinnern), dass die Pfade von $ [mm] B_{t} [/mm] $ fast sicher nicht differenzierbar sind.
> Willst du auf was anderes hinaus?
Du kannst schon viel früher argumentieren, ohne eine Ableitung direkt hinzuschreiben: Die "normale" Ableitung ist eine lineare Approximierung, d.h. in einer ausreichend kleinen Umgebung um den Ableitungspunkt kann man die Ausgangsfunktion "ausreichend gut" linear approximieren.
Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass man [mm] $W^2_t$ [/mm] (ich hatte ausversehen [mm] B^2_t [/mm] für Brownsche Bewegung geschrieben ) für einen ausreichend kleinen Zeitschritt gut vorhersagen kann.
Dies widerspricht aber gerade der Natur einer Brownschen Bewegung bzw. aus Finanzsicht, wenn man die Brownsche Bewegung als Modell für einen Aktienkurs sieht, der Natur des Aktienmarktes.
Gruß
Gono.
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 17:01 Fr 17.03.2023 | Autor: | Jellal |
Alles klar,
danke dir Gono!
Dann akzeptiere ich die Ito-Regel jetzt erst mal und arbeite mich weiter durch das Buch!
Jellal
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Hallo ihr beiden !
Ich bewundere euch dabei, dass ihr hier ein Thema diskutiert, bei
welchem nur wenige einigermaßen mitreden können (ich z.B. überhaupt
nicht). Es wäre schön, wenn viele andere dieses Forum hier wieder
entdecken würden, weil es hier eben noch möglich ist (im Gegensatz zu
diversen anderen Foren, wo alles immer nur ganz kurz und zackzack
gehen soll), Themen recht eingehend und ausführlich zu erörtern.
LG al-©hwarizmi
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